Der Bürgermeister von Onogawa, Yoshiaki Suda, spielt ein Stück von "Gotthard". © Patrick Rohr
Der Bürgermeister von Onogawa, Yoshiaki Suda, spielt ein Stück von "Gotthard". © Patrick Rohr

Das Leben in Onagawa kehrt nur langsam zurück

Yoshiaki Suda schliesst die Augen und senkt den Kopf. Dann schlägt er mit dem rechten Fuss ein paarmal fest auf den Boden und legt los. Für einen Moment wirkt er total befreit. Dann hebt er den Kopf, öffnet die Augen und strahlt. “Das Stück ist von ‘Gotthard’! Als Schweizer kennen Sie die Band sicher?”, ruft er und spielt weiter, völlig entfesselt.

Wir sind im Gitarrenladen Glide Garage in Onagawa, einer Stadt, die vom Tsunami 2011 schwer getroffen wurde. 827 Menschen verloren hier ihr Leben, zwei Drittel aller Häuser wurden zerstört. Yoshiaki Suda, der Mann an der Gitarre, ist Mitglied einer Heavy-Metal-Band – und Bürgermeister von Onagawa.

Wir treffen uns in der neuen, autofreien Einkaufsstrasse von Onagawa, die vor Kurzem eröffnet wurde: einfache eingeschossige Holzhäuser, die bei einem Erdbeben nicht gleich einstürzen würden – und deren Verlust bei einem nächsten Tsunami verkraftbar wäre. Unten an der Strasse das Meer, das so viel Leid über Onagawa gebracht hat, oben der neue Bahnhof, der vom bekannten japanischen Architekten Shigeru Ban entworfen wurde – dem Architekten, der in Zürich auch das Holzgebäude des Medienunternehmens Tamedia geplant hat.

Yoshiaki Suda bringt mich in den Gitarrenladen, weil der in seinen Augen für den Neubeginn der Stadt steht. Über zehntausend Menschen lebten vor der Katastrophe in Onagawa, heute sind es noch etwas über sechstausend. Und noch immer ziehen Menschen weg, weil sie hier keine Zukunft sehen. “Das ist schmerzhaft, aber wir können wenig dagegen tun”, sagt Bürgermeister Suda. “Man muss die Leute auch verstehen, nach einer solchen Katastrophe.” Darum versucht man auch gar nicht erst, ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner zur Rückkehr zu bewegen. Vielmehr setzt man auf Neuzuzüger, die in einer Stadt, die von Grund auf neu gebaut wird, eine Chance sehen.

Yosuke Kajiya vom Gitarrenladen Glide Garage ist einer von ihnen. Er ist kürzlich mit seiner Frau von Tokio nach Onagawa gezogen. “Als ich nach der Katastrophe hierhin kam, um zu helfen, spürte ich eine Energie, wie ich sie noch nirgends gespürt hatte. Hier wollte ich etwas anfangen“, sagt der ehemalige Gitarrenverkäufer. 

»Als ich nach der Katastrophe hierhin kam, um zu helfen, spürte ich eine Energie, wie ich sie noch nirgends gespürt hatte. Hier wollte ich etwas anfangen.«

Heute betreibt er in Onagawa eine Gitarrenmanufaktur, deren Besonderheit darin besteht, dass alle Elemente – Klangkörper, Hals, Verzierungen – von Hand geschnitzt werden. Noch besuchen wenige Leute sein Geschäft, doch Yosuke Kajiya ist überzeugt, dass sich das bald ändern wird. “Onagawa wird wieder eine sehr lebendige Stadt.”

Daran glaubt auch Bürgermeister Suda, der einer der ersten Kunden in Kajiyas Gitarrengeschäft war. Er ist im Oktober 2011, erst 38-jährig und ein halbes Jahr nach dem Tsunami, mit dem Versprechen angetreten, Onagawa nachhaltig und in alter Grösse wiederaufzubauen.

Dass das nicht so schnell geht, zeigt ein Besuch im Ende 2015 wiedereröffneten Hafen mit dem Fischmarkt, dem drittgrössten Japans. Trotz modernster Infrastruktur will der Betrieb nicht richtig in Fahrt kommen. Der Verkauf ist um ein Drittel eingebrochen, die Preise sind seit dem Tsunami gar um die Hälfte gesunken. Schuld sei nicht allein die Katastrophe, sagt ein Verantwortlicher des Fischmarkts, auch der Klimawandel spiele mit – und dass die Chinesen in japanischen Gewässern fischen und den Fisch viel zu günstig verkaufen würden.

Doch es ist klar, dass das Seebeben, der Tsunami und die Reaktorkatastrophe im hundertfünfzig Kilometer entfernten Fukushima eine grosse Zäsur in der Geschichte Onagawas darstellen. Es wird noch lange dauern, bis der Ort wieder eine richtige Stadt ist. Auf Meereshöhe wird ausser dem Fischmarkt, der Einkaufsstrasse und dem Bahnhof nichts mehr gebaut. Die Wohnhäuser entstehen weiter oben, auf bestehenden oder neu aufgeschütteten Hügeln und Hängen, damit sie beim nächsten Tsunami sicher sind.

Inzwischen stehen die ersten Wohnblöcke, grosse Überbauungen wie die Onagawa Municipal Sports Park Residence, gebaut auf einem ehemaligen Athletik-Areal und finanziert vom Staat. Die ersten der 196 Wohnungen konnten im März 2014, genau drei Jahre nach dem Tsunami, bezogen werden.

Demnächst werden in der Umgebung weitere Grossüberbauungen fertiggestellt. Einfamilienhäuser, wie sie das Ortsbild früher prägten, wird es praktisch keine mehr geben. In eines der wenigen werden Takako und Kenji Endo, beide in den frühen Sechzigern, ziehen. Seit sechs Jahren wohnen sie in einem der sechs Containerdörfer, die die Stadt nach dem Tsunami als Notunterkünfte aufgestellt hat. “Nein, schön ist es hier nicht”, sagt Kenji Endo, der sich mit seiner Frau ein knapp neun Quadratmeter grosses Zimmer teilt, in dem die beiden essen, schlafen, arbeiten und fernsehen. Es ist kalt im Container, der Wind zieht durch die Ritzen, und “man kann die Nachbarn beim Schlafen hören”, wie Takako Endo mit leicht sarkastischem Unterton sagt. Aber alles in allem sei es immer noch besser als im ersten halben Jahr nach dem Tsunami, als sie mit Hunderten anderen Menschen in der grossen Stadtturnhalle lebten: “Damals haben nur Kartonwände die verschiedenen Familien und Paare getrennt.” Ich möchte von den beiden wissen, ob sie sich in den langen Jahren nach dem Tsunami nie überlegt hätten, wegzuziehen und an einem anderen Ort wieder in einem richtigen Haus zu leben. “Nein, wo hätten wir auch hinwollen in unserem Alter?”, sagen sie übereinstimmend. “Aber sechs Jahre sind schon eine sehr lange Zeit”, werfe ich ein. “Ja, und das ist es auch, was uns frustriert! Warum musste zuerst der Fischmarkt wiederaufgebaut werden und erst danach die Wohnblöcke? Das verstehe ich nicht”, sagt Takako Endo. “Aber am Schluss müssen wir dankbar sein, dass wir noch leben und überhaupt ein Dach über dem Kopf haben.”
Im Gitarrenladen Glide Garage legt Bürgermeister Yoshiaki Suda die Gitarre zu Seite und richtet seine Krawatte. Er muss zurück an die Arbeit. Er träumt davon, dass das einst verschlafene Fischerstädtchen Onagawa eine pulsierende kleine Perle am Meer wird. Ein Ort, in den Touristen kommen und junge, kreative Leute aus dem ganzen Land ziehen. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Japan – Abseits von Kirschblüten und Kimono“, das der Fotojournalist Patrick Rohr nach mehreren Reisen nach Japan im letzten Herbst veröffentlicht hat. Sein Ziel war, Japan so zeigen, wie man es als Tourist nicht erlebt – persönlich, ungeschönt, überraschend. In zahlreichen Porträts und Reportagen zeichnet er das Bild eines sehr vielfältigen Landes, unter dessen Oberfläche eine grosse Zerrissenheit spürbar ist. Noch immer wirken die Jahrhunderte der Abgeschlossenheit nach, aber Japan kommt nicht umhin, sich zu öffnen. Ein Prozess, der das traditionsreiche und bis anhin sehr homogene Land tiefgreifend verändern wird.

(TELE/Beobachter Edition, 224 Seiten, gebunden)
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Patrick Rohr ist Journalist, Fotograf, Moderator und Buchautor. Er begleitet seit mehreren Jahren Reisen für Background Tours.